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Gefragt ist Eigenverantwortung

Zenit - Das in der Schweiz seit Februar grassierende Coronavirus hatte weitreichende Konsequenzen auf unser Alltagsleben. Nach den harten Einschnitten kehrt nun wieder vermehrt Normalität ein. Verschwunden ist das Virus aber nicht. Christoph Henzen, Leiter des Departementes Medizin am Luzerner Kantonsspital, sagt, was vor allem für ältere Menschen wichtig bleibt.
30. Juni 2020
Lesezeit: 6 Minuten
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Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat im Zuge der Coronakrise alle über 65-Jährigen in die Risikogruppe eingeteilt. Diese «Grenzziehung» bei 65 Jahren war umstritten. Ihre Meinung?

Die Grenze scheint mir in diesem Fall ziemlich zutreffend zu sein, denn alle Statistiken zeigen, dass das Alter auch ohne bestehende Vorerkrankungen der höchste und schwerwiegendste Risikofaktor für Covid-19 ist. Das Virus dockt sich nämlich in den Bronchialwänden an spezielle Fühler, den ACE2-Rezeptoren, an, die sich erst ab 35 bis 40 Jahren allmählich ausbilden. Im Alter von 65 bis 70 sind sie dann voll ausgeprägt. Je älter man also ist, desto mehr Andockmöglichkeiten hat das Virus und kann so am ehesten die gefürchteten Entzündungsreaktionen auslösen. Das relativ späte Heranbilden dieser Rezeptoren ist auch der Grund dafür, dass die allermeisten infizierten Kinder und Jugendlichen oft gar nicht richtig krank werden.

Gleichzeitig hat auch unter den älteren Menschen die überwiegende Mehrheit der Betroffenen - selbst solche mit Vorerkrankungen - die Infektion überstanden, teils sogar mehr oder weniger problemlos. Welche Faktoren spielen da mit?

Wenn wir das wüssten, könnten wir mit einer entsprechenden Publikation für grosses Aufsehen sorgen. Tatsache ist, dass man das noch nicht schlüssig sagen kann. Wir wissen nicht, weshalb es 90- oder sogar 100-Jährige gibt, die bei einer Infektion nicht speziell schwer erkranken, während 50-Jährige daran sterben. Ein gesicherter Risikofaktor für einen schweren Verlauf ist starkes Übergewicht, also Fettleibigkeit, was einem Body-Mass-Index von über 30 entspricht. Es gibt zwar noch andere Risikofaktoren, aber bei allen ist der Zusammenhang mit einem schweren Verlauf nicht so ausgeprägt.

Welche Rolle spielt das Geschlecht?

Frauen sind zwar häufiger von Covid-19 betroffen, aber schwere Verläufe und Todesfälle gibt es deutlich mehr bei Männern. Das war auch auf unserer Intensivstation sehr auffallend. Doch auch diesbezüglich weiss man nicht genau, weshalb das so ist. Die Vermutung liegt nahe, dass die Hormone Testosteron beim Mann und Östradiol bei der Frau den Krankheitsverlauf beeinflussen, aber gesichert ist das noch nicht.

Geht aus dem bisher Gesagten hervor, dass man selber ausser dem Vermeiden von starkem Übergewicht kaum etwas beitragen kann zur möglichen Verhinderung eines schweren Verlaufs?

So absolut würde ich das nicht sagen, denn es gibt auch Normalgewichtige, die einen sehr ungesunden Lebenswandel haben. Mit einer ausgewogenen Ernährung, ausreichend körperlicher Bewegung, dem Rauchverzicht und der Beschränkung des Alkoholkonsums auf ein bis zwei Glas Wein täglich kann man sich und seiner Gesundheit sehr viel Gutes tun, nicht nur bei Covid-19, sondern bei allen Infektionskrankheiten, ja überhaupt im Leben.

Stärkt das alles auch das Immunsystem?

Tendenziell schon, wobei es nicht «das» Immunsystem gibt. Jeder Mensch hat gewisse Veranlagungen, und so kann sein Immunsystem ganz individuelle Strukturen haben. Jemand ist vielleicht immun gegen Malaria, dafür empfänglich für Pneumokokken. Es zeigt sich auch bei Covid-19, dass die Partnerin oder der Partner einer betroffenen Person nicht zwangsläufig angesteckt wird, obwohl das Paar eng zusammenlebt.

Welche Rolle fürs Immunsystem spielt der psychische Stress, der seit dem Auftreten des Coronavirus gerade bei der Risikogruppe extrem hoch sein kann?

Stress kann das Immunsystem zweifellos beeinflussen. Es gibt zwar auch positiven Stress, aber dieses Virus führte und führt zu Angst, Panik, Isolation und anderem mehr. Dieser Negativstress hat einen direkten Einfluss auf Abwehr- und Entzündungszellen oder auch die weissen Blutkörperchen. Ich glaube nicht, dass die Auswirkungen von Negativstress letztlich schlimmer sind als die Krankheit Covid-19 selber, aber geringschätzen sollte man ihn nicht.

Was hilft gegen Angst und Panik?

Gute Frage, aber sie ist verallgemeinernd nicht zu beantworten. Jeder Mensch muss auf seine Weise ausprobieren, was für ihn die beste Bewältigungsstrategie ist. Es ist zu hoffen, dass gerade ältere Menschen mit ihrer Lebenserfahrung, inklusive dem Meistern der einen und anderen Krise, die für sie passende Strategie gefunden haben. Der eine macht vielleicht Yoga oder hat einen Bastelkeller, die andere entspannt sich mit Musik oder begibt sich mit einem Buch in eine andere Welt. Es gibt viele Wege, wie man zur Ruhe kommen kann, aber den Königsweg für alle gibt es nicht. Man muss einiges an Selbstverantwortung übernehmen, und das können gerade in Zeiten grossen Negativstresses leider nicht alle. Immerhin gibt es aber einige Institutionen - wie unter anderem Pro Senectute -, die einem behilflich sind auf der Suche nach dem persönlichen Weg.

Hilfreich sind sicher in fast jedem Fall soziale Kontakte, die man ja während des Lockdowns weitgehend meiden musste. Darf man als Risikopatient wieder «unter die Leute»?

Ja, das ist sicher zu begrüssen. Das BAG hat viele Lockerungsschritte erlaubt. Diesen Rahmen sollten auch ältere Menschen nach Möglichkeit nutzen, immer unter Einhaltung der geltenden Schutzmassnahmen.

Also Einkaufen und ÖV-Fahrten mit Maske?

Ja, für ältere Menschen würde ich das vorerst weiterhin empfehlen, ebenso würde ich bei diesen Gelegenheiten und allgemein unter Leuten eine Brille oder Sonnenbrille tragen, weil eine Ansteckung auch über die Augenschleimhäute möglich ist. Weiterhin von grosser Bedeutung ist ferner die Handhygiene, also beim Nachhausekommen gründliches Händewaschen mit Seife und für unterwegs ein kleines Fläschchen Desinfektionsmittel, das notfalls verwendet werden kann, wenn keine Möglichkeit des Händewaschens besteht. Mit diesen Massnahmen ist man ziemlich sicher vor Covid-19 gefeit.

Was ist beim Hüten der Enkelkinder zu beachten?

Solange nicht ganz klar ist, inwieweit Kinder ansteckend sind, würde ich mich auch hier an die genannten Empfehlungen halten, wobei man stets ein wenig den gesunden Menschenverstand walten lassen darf und etwas differenzieren kann. Kleine Kinder, die weitgehend zu Hause sind, haben ein kleineres Gefährdungspotenzial als etwa Schulkinder, die dauernd mit vielen anderen Kindern in Kontakt sind.

Auch ins Restaurant darf man wieder. Essen oder trinken mit Maske geht aber schlecht.

Das stimmt, aber die Restaurants müssen ja ein Schutzkonzept haben. Um möglichst auf der sicheren Seite zu sein, würde ich am ehesten mit Leuten essen gehen, mit denen man eh schon in etwas näherem Kontakt steht, mit der Familie zum Beispiel.

Aber ein Restrisiko bleibt.

Ja, aber ein Restrisiko gibt es immer und überall im Leben, das war schon vor Corona so und wird auch so bleiben. Es sagt sich leicht, aber meines Erachtens sollte man sich nach Möglichkeit nicht ausschliesslich auf dieses Restrisiko fixieren. Das ist der Lebensqualität und damit der Gesundheit auch abträglich. Andererseits ist es in unserer Gesellschaft erstaunlicherweise üblich, dass die wirklich grossen Risiken einfach ausgeblendet werden.

Zum Beispiel?

Über die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer ist übergewichtig, das kann auf Dauer fatale Folgen haben und viele Krankheiten begünstigen. Und der sicherste Weg, im Schnitt sieben Lebensjahre zu verlieren, ist nach wie vor das Rauchen. Es lohnt sich in jedem Alter, das Rauchen aufzugeben.

Angenommen, das Coronavirus würde über Nacht verschwinden oder es gäbe eine wirksame Impfung dagegen: Was soll bleiben von den Schutzmassnahmen?

In erster Linie die Handhygiene, die ist auch ohne Coronavirus immer sinnvoll. Eine Maske würde ich im genannten Fall selber wohl nicht mehr tragen.

Aber bei der nächsten Grippewelle im Herbst?

Bester Schutz gegen die Grippe ist die Impfung und die Handhygiene. Eine Maske rein als Grippeschutz scheint mir nicht zwingend. Man sollte aber immer eigenverantwortlich handeln und sich bewusst sein, dass uns in Zukunft auch andere Viren bedrohen können. Dass durch die fortschreitende Globalisierung «die Welt ein Dorf» geworden ist, wie es sprichwörtlich heisst, hat zweifellos Vorteile, aber eben auch Kehrseiten. Ein Virus kann sich rasant in alle Kontinente ausbreiten. Insofern würde ich übrig gebliebene Masken und Desinfektionsmittel nicht vorschnell entsorgen, verbunden mit der Hoffnung, dass man sie nie brauchen wird.

Quelle: Zenit vom 30.06.2020
Autor: Hans Graber

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