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Der Helm soll es richten

Ostschweiz am Sonntag - Kinderärzte sehen sich zunehmend mit unförmigen Köpfen konfrontiert. Im ersten Lebensjahr kann eine Helmtherapie Abhilfe schaffen. Doch auch die Eltern können viel bewirken.
31. Dezember 2017
Lesezeit: 5 Minuten
Ein Helm kann mithelfen, Kopfdeformitäten beim Kleinkind auszugleichen. (Bild: Getty)

Als unser Sohn mit etwa sieben Monaten einen Helm auf den Kopf gesetzt bekam, schluckte ich zweimal leer. Dass er später mal Eishockey spielen würde, konnte ich mir durchaus vorstellen. Aber so ganz ohne Brustpanzer und Knieschoner wirkte dieses unmodische Accessoire nicht besonders herzig.

Egal. Wie alle Eltern, die nur das Beste für ihr Kind wollen, standen wir drüber und machten mit dem Alltag weiter wie bisher: Spaziergänge, Restaurantbesuche, Tierpark, Babyschwimmen. «Mama, wieso trägt dieses Baby einen Helm?», fragten in der Öffentlichkeit oft andere Kinder. Das Unwissen ihrer Eltern war genauso gross wie die direkte Art der Kinder. «Weisst du, so tut es nicht so weh beim Umfallen», antworteten die Eltern. «Der lernt bestimmt gerade Laufen», oder «vielleicht hat es eine Behinderung».

Andere sprachen uns an, weil sie eigene Erfahrungen gemacht hatten. Manche wünschten sich, es hätte die Helmtherapie bereits früher gegeben – und ihr Kinderarzt hätte sie besser informiert. Wieder andere haben sich bewusst dagegen entschieden oder die Therapie nach wenigen Wochen abgebrochen.

Flachköpfe durch Rückenlage

Vielleicht haben auch Sie schon einmal einen «Mini-Eishockeyspieler» gesehen und sich gefragt, was das wohl soll? Nun, diese Babys haben eine Abflachung seitlich oder hinten am Kopf, welche der Helm korrigieren soll. Die sogenannten Kopfdeformitäten sind Anfang der 1990er-Jahre stark angestiegen, nachdem man herausgefunden hatte, dass die Rückenlage das Risiko eines plötzlichen Kindstodes senkt. Seither gilt die Devise: Säuglinge sollen auf dem Rücken schlafen. Weil der Schädel aber noch weich ist, drückt es den Kopf öfter flach.

Die Verformungen können aber auch andere Ursachen haben: Das Kind hatte im Mutterleib zu wenig Platz oder verletzte sich bei der Geburt und schont nun diese Stelle des Schädels.

Die Helmtherapie gibt es seit gut 15 Jahren. Mit Hilfe eines auf den Schädel angepassten Helmes wird so das Kopfwachstum gesteuert: An der ausgeprägten Seite ist der Helm anliegend, an der abgeflachten Seite besteht Platz. So wächst der Kopf automatisch nur noch an der Stelle, wo er Aufholbedarf hat. Durch das enorme Kopfwachstum im ersten Lebensjahr stellen sich rasch Erfolge ein.

Markus Lehner, leitender Kinderchirurg am Kantonsspital Luzern, ist überzeugt, dass man ganz viele dieser Verformungen mit einfacheren Mitteln verhindern könnte (siehe Kasten), wenn man nur früh genug reagieren würde: «Die Eltern sind nicht gut aufgeklärt», stellt Lehner fest, «aber das viel Schlimmere ist, dass das Problem selbst bei den Kinderärzten erst in den letzten drei, vier Jahren zum Thema geworden ist.»

In München, wo der Facharzt vor seinem Wechsel nach Luzern mehrere Jahre tätig war, habe er ganz viele Kinder gesehen, bei denen zuvor ein Arzt schlicht gesagt hatte: «Das wird schon.» Dort hat er wöchentlich etwa zehn betroffene Babys beurteilt. In Luzern mit ähnlich grossem Einzugsgebiet sind es bisher ein bis zwei pro Woche. Lehner geht davon aus, dass es noch viel Sensibilisierungsarbeit braucht.

Kein Helm vor dem sechsten Monat

Die Zahl der geschätzten Betroffenen schwankt stark. In den meisten Veröffentlichungen geht man davon aus, dass etwa jeder Zehnte eine Schädelverformung aufweist. Dabei bedeutet das Erkennen einer Kopfverformung noch lange nicht zwingend eine Helmtherapie. Vor dem sechsten Monat, sagt Markus Lehner, würde er keinen Helm empfehlen.

Erstens bestehe die Chance, dass sich die Kopfform durch andere Massnahmen spontan verbessere. Zweitens seien diese Babys zu klein: «Die zusätzlichen 200 Gramm auf dem ohnehin schon schweren Kopf können zu Störungen bei der Kopfkontrolle führen», sagt Lehner, der in München lange mit einer Neurologin zusammengearbeitet hat: «In meinen Augen werden viel zu viele Helme verschrieben.»

Lehner meint dabei, dass in manchen Fällen nach sechs Monaten gar kein Helm mehr nötig gewesen wäre, weil sich das Problem erübrigt hätte. Damit grenzt er sich nicht nur von Helmproduzenten oder Orthopäden ab, für welche die Helme ein Geschäftsmodell darstellen, sondern auch gegen Eltern, die mit klaren Forderungen nach einem Helm an ihn gelangen. Grund für das Drängen der besorgten Eltern: Die Zeit spielt eine wichtige Rolle. Denn je früher der Helm angewandt wird, desto schneller stellen sich Erfolge ein. Hingegen bringt ein Helm analog der Wachstumskurve des Kopfes nach dem ersten Lebensjahr praktisch nichts mehr.

In der Wissenschaft herrscht bis anhin noch keine Klarheit, was der richtige Weg sei. Die deutschsprachige Gesellschaft für Neuropädiatrie hat zum Thema eine Stellungnahme veröffentlicht, weil Kinder- und Jugendärzte zunehmend mit Schädelasymmetrien konfrontiert würden.

Es gibt nur wenige Studien

Darin weist die Gesellschaft auf die mangelnde Datenlage hin. So wird unter anderem erläutert, dass man zu wenige Informationen über einen Spontanverlauf (ohne eingeleitete Massnahmen) wie auch auf die längerfristigen Auswirkungen einer Schädelasymmetrie – etwa motorische Defizite – hat.

«Ob die Helmtherapie uber die rein kosmetische Verbesserung der Schädelasymmetrie hin­aus einen medizinischen Nutzen hat, erscheint fraglich», folgert die Gesellschaft für Neuropädiatrie in der Stellungnahme. Peter Weber, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Neuropädiatrie, sagt ausserdem zum richtigen Zeitpunkt der Helmtherapie: «Ob der Helm die motorische Entwicklung verzögert, ist allenfalls als Hypothese zu werten.»

Wissenschaftliche Daten dazu würden fehlen. «Und wenn dies so wäre, stellt sich ja die Frage, ob eine Verzögerung, die dann im zweiten Lebensjahr aufgeholt wird, de facto langfristig ein Problem darstellt.» Aufgrund der besseren Formbarkeit des Schädels beginnt man oft im Alter von vier Monaten mit der Helmtherapie. «Eine dadurch bedingte Verzögerung in der motorischen Entwicklung konnten wir nicht beobachten», sagt Weber.

Eltern müssen oft selber bezahlen

Fachärzte wie unter anderem Markus Lehner arbeiten zurzeit daran, klare Kriterien zu entwickeln, wann eine Helmtherapie angezeigt ist. Dies auch im Hinblick auf die Kosten von rund 2000 Franken pro Helm, welche die Eltern heute oft selber übernehmen.

Die Kopfverformungen reichen von leichten Asymmetrien, die von Auge kaum sichtbar sind, bis zu starken Deformitäten, die sich auf Ohren, Gesicht und Kiefer auswirken. «Bei diesen extremen Ausprägungen handelt es sich nicht mehr um rein kosmetische Korrekturen», sagt Lehner, «weil sie beispielsweise die Kieferstellung beeinflussen können.»

In den meisten Fällen, wo sich die Ausprägung bloss auf den Hinterkopf beschränkt, handelt es sich aber um eine rein äusserliche Massnahme: Sozusagen die erste Schönheitskorrektur. Wenn die Abflachung nicht ganz korrigiert werden konnte, gibt es zumindest einen Trost: es wachsen Haare darüber.

Quelle: Ostschweiz am Sonntag vom 31.12.2017
Autor: Rahel Lüönd

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