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Differenzialdiagnosen der Multiplen Sklerose mit therapeutischer Konsequenz: "Was Sie über AQP4, MOG und NMOSD wissen müssen"

Am Jahreskongress der SOG in Lausanne berichtete Prof. Dr. med. Misha Pless, Neuroophthalmologe am Kantonsspital Luzern, über eine wichtige Differenzialdiagnose zur Multiplen Sklerose (MS), die Neuromyelitis Optica Spectrum Disorder (NMOSD). In seinem Referat zu den aktuellen neuroophthalmologischen Publikationen berücksichtige er als eine wichtige Arbeit das Paper mit dem oben genannten Titel.
22. Februar 2021
Lesezeit: 6 Minuten
Prof

Prof. Dr. med. Misha Pless Leitender Arzt Neuroophthalmologie, Augenklinik, Luzerner Kantonsspital 

Die Abkürzungen

MOSD ist die Neuromyelitis Optica Spectrum Disorder. Bei ihr lässt sich in der grossen Mehrheit der Fälle der Aquaporin4-Antikörper nachweisen (AQP4). Bei einem Teil der Aquaporin-4-negativen Patienten mit NMOSD liegen Antikörper gegen das Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein MOG vor. 

Die Bedeutung der Differenzialdiagnose

Die NMOSD gehört wie MS zu den Autoimmunkrankheiten des Nervensystems, mit schubförmigem Verlauf, ähnlicher Symptomatik und potenziell ähnlich schweren Behinderungen. Weil NMOSD eine andere Behandlung erfordert und bei MS bewährte Medikamente bei einigen Unterformen das Ergebnis sogar verschlechtern können, ist die Abgrenzung zur MS wichtig. 

Eugene Devic beschrieb die Neuromyelitis optica (NMO) im Jahr 1894 (daher früher auch als Devic-Syndrom bezeichnet). Sie galt als Unterform der MS. Im Jahr 2004 entdeckten Lennon und Wingerchuk einen «Neuromyelitis-Optica-IgG-Antikörper, der als Aquaporin4-Antikörper (AQP4-IgG) identifiziert werden konnte.2 Dieser ist bei MS nicht nachzuweisen, fällt jedoch in 75% der NMOSD-Fälle positiv aus, zumindest bei Kaukasiern und Asiaten (bei karibischen Einwohnern in 33 % und bei Italienern in 47% der Patienten mit NMOSD).2 Die Diagnose der NMOSD beruht daher nicht allein auf dem AQP4-IgG-Nachweis, sondern wesentlich auf klinischen und gegebenenfalls auch MRI-Kennzeichen.1, 3

Die NMOSD sind selten (ca. 1-3 von 100'000 Personen),4 wogegen die MS in Mitteleuropa rund 100 von 100'000 Personen betrifft. Von NMSOD sind Frauen 2- bis 9-mal häufiger betroffen; das Altersspektrum ähnelt dem der MS.

Das Wasserkanal-Protein Aquaporin 4 (AQP4) spielt u.a. in den Astrozyten eine Rolle für den Flüssigkeitshaushalt und wohl auch die Blut-Hirn-Schranke. Antikörper gegen AQP4 aktivieren Komplement an den AQP4 -Kanälen. In der Folge kommt es zur Astrozytenschädigung. Einwanderung von Granulozyten und Tod der Astrozyten, zur Schädigung der Oligodendrozyten, Axonverlust, Makrophageneintritt, Neuronentod und schliesslich zur reakriven Gliose. 

Die Diagnose beruht auf klinischen Charakteristika (Tab. 1), den AQP4-IgG-Nachweis und dem Ausschluss anderer Diagnosen. Die klinischen Zeichen können von mild bis schwer ausgeprägt sein. Die Symptome aus Schüben bilden sich meist nicht vollständig zurück.

NMOSD-Symptome, AQP4 positiv

Ist bei Patienten mit den charakteristischen NMOSD -Symptomen AQP4-IgG nachzuweisen (positiv), gilt die Diagnose NMOSD gesichert, wenn mindestens eines der in Tabelle 1 genannten klinischen Zeichen vorliegt und wenn andere Diagnosen ausgeschlossen sind. 

NMOSD-Symptome, AQP4 negativ

Fällt der Nachweis des AQP4-IgG negativ aus, so müssen mindestens 2 der kennzeichnenden Symptome (nach einer oder mehr klinischen Episoden) und alle folgenden Bedingungen vorliegen: 

  • Mindestens eines der klinischen Charakteristika muss Optikusneuritis, akute Myelitis mit LETM (longitudinale extensive transverse Myelitis) oder Area-postrema-Syndrom sein
  • Räumliche Dissemination
  • Erfüllen bestimmter MRI-Kriterien (je nach betroffener Struktur, Tabelle 2)

Auch müssen andere Diagnosen ausgeschlossen sein, bevor die Diagnose der negativen AQP4-NMOSD gestellt werden kann.

«Red Flags», die atypisch für NMOSD sind und andere Ursachen nahelegen, sind unter anderem:3

  • Kontinuierliche neurologische Verschlechterung ohne schubförmige Charakteristik
  • Rasch auftretende Attacke (<4 Stunden - Ischämie/Infarkt)
  • Kontinuierliche Verschlechterung mehr als 4 Wochen ab Beginn des Schubs (Sarkoidose/Neoplasma in Betracht ziehen)
  • Eher für eine MS sprechen der Nachweis oligoklonaler Banden im Liquor (< 20 % bei NMOSD nachweisbar, > 80 % bei MS) und eine partiell transverse Myelitis.

Neurologische Syndrome ähnlich der NMOSD werden auch durch Sarkoidose, Neoplasmen (Lymphome, paraneoplastische Phänomene) und chronische Infektionen hervorgerufen. Hinweise liefern Begleitsymptome wie Fieber, Nachtschweiss, ACE-Erhöhung und radiologische Befunde (Sarkoidose), suggestive klinische, radiologische oder Laborbefunde (HIV, Syphilis). 

Red Flags in der neuroradiologischen Diagnostik sind spezielle Charakteristika der Bildgebung, die eher für MS sprechen (Details ins Ref. 3) oder Läsionen, welche länger als 3 Monate Gadolinium anreichern.

Behandlung der NMOSD

Eine frühzeitige Diagnose und entsprechend frühe Therapie ist bei NMOSD wichtig, weil sich Symptome nach Schüben meist nicht mehr vollständig zurückbilden und sich Behinderungen so über die Zeit aufbauen.

Für die Akuttherapie stehen Steroide (als Pulstherapie mit hohen Dosen von Methylprednisolon über wenige Tage) und die Plasmapherese zur Verfügung. Die Plasmapherese kommt überwiegend in Betracht, wenn das Ansprechen auf Steroide nicht genügt oder die Akutsymptome schwer sind.

Die Erhaltungstherapie ist eine immunsupprimierende Therapie (Steroide, Azathioprin, Mycophenolat-Mofetil, Mitoxantron, Immunglobuline, Rituximab). Interferon, wie es bei Multipler Sklerose zur Anwendung kommt, könnte den Krankheitsverlauf verschlechtern.4

Neuere Antikörper sind in Erprobung, wie der monoklonale humane antiAQP4-Antikörper Aquaporumab, der kompetitiv mit AQP4-IgG an den Kanal bindet. Weitere Antikörper werden teilweise schon angewandt, wie Eculizumab, Satralizumab und Tocilizumab (Antikörper gegen Anti-CD5 oder 1L6). 

Und was ist mit MOG?

Bei einem Teil der AQP4-negativen Patienten mit NMOSD lassen sich IgG-Antikörper gegen Myelin Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG) nachweisen. MOG kann jedoch selten auch bei MS (vor allem der pädiatrischen MS) und ADEM (akute disseminierte/demyelinisierende Enzephalomyelitis, monophasischer Verlauf) auftreten; die Grenzziehung ist hier unscharf. Der Verlauf ist eher günstiger als bei AQP4-positiver NMSOD, vor allem sprechen diese Patienten besser auf Steroide oder Plasmaaustausch an. Bei ihnen sollte die Steroidtherapie bis zu 12 Monate dauern. Gegenüber einigen der Biologika wie Sivelestat oder Eculizumab scheinen diese Antikörper jedoch resistent zu sein. 

Fazit

  • Die Neuromyelitis Optica Spectrum Disorder (NMOSD) ist ca. 100-mal seltener als die MS.
  • Die Therapie unterscheidet sich, und beispielsweise das bei MS geeignete Interferon könnte den Verlauf der NMOSD verschlechtern.
  • Diagnostische Kriterien für die NMOSD liegen vor (Tab. 1).
  • Aquaporin4-IgG-Antikörper sind in ca. 75 % nachweisbar.
  • Nach NMOSD-Schüben geht die klinische Symptomatik meist nicht vollständig (weniger deutlich als bei MS) zurück, Behinderungen summieren sich.
  • MOG-IgG-Antikörper können sowohl bei MS als auch bei AQP4-negativer NMOSD und bei ADEM vorliegen. Der Nachweis von MOG hat ebenfalls therapeutische Konsequenzen (längere Steroid-Therapie).
Tab. 1 Klinische Kernkriterien der Neuromyelitis-Optica-Spektrum-Erkrankung (NMOSD).3
Optikusneuritis
Akute Myelitis
Area postrema-Syndrom (unstillbarer Schluckauf, Übelkeit Erbrechen)
Akutes Hirnstamm-Syndrom (Hirnnerven-Ausfälle, kontralaterale sensible und/oder motorische Halbseitensymptomatik, sensorische/motorische Störungen)
Symptomatische Narkolepsie oder akute klinische Zwischenhirn-Syndrome
Symptomatische zerebrale Syndrome mit NMOSD-typischen Gehirnläsionen

 

Tab. 2 Erfordernisse im MRI bei NMOSD mit negativem AQP4-19G-Nachweis bzw. unbekanntem AQP4-Status.
Akute Optikusneuritis
  • MRI des Gehirns mit Normalbefunden (ausser den Opticus-Befunden) oder nur unspezifischen Läsionen der weissen Substanz ODER
  • Orbitales MRI mit T2-hyperintensen Läsionen oder T1-gewichteten Gadolinium-anreichernden Läsionen über ≥1/2 Länge des Optikus oder mit Beteiligung des Chiasmas
Akute Myelitis
  • Intramedulläre Läsion über ≥ 3 angrenzende Segmente (LETM) ODER ≥ angrenzende Segmente einer fokalen Rückenmarksatrophie bei Patienten mit anamnestischer Myelitis
Are postrema-Syndrom
  • Läsion in der oralen medulla / Area postrema
Akutes Hirnstammsyndrom
  • Periependymale Hirnstammläsion

 

Referenzen

  1. Prasad S, Chen 1. What You Need to Know About AQP4, MOG, and NMOSD. Semin Neurol. 2019 Dec;39(6):718- 731.
  2. Jasiak-Zatonska M, Kalinowska-Lyszczarz A, Michalak S, Kozubski W. The Immunology of Neuromyelitis Optica-Current Knowledge, Clinical Implications, Controversies and Future Perspectives. Int1 Mol Sci. 2016;17(3):273.
  3. Wingerchuk DM, et al; International Panel for NMO Diagnosis. International consensus diagnostic criteria for neuromyelitis optica spectrum disorders. Neurology. 2015 Jul14;85(2):177-89.
  4.  Wingerchuk D.M. Neuromyelitis spectrum disorders. Contin. Lifelong Learn. Neurol. 2010;16:105-121.

Autorin: Ulrike Heller-Novotny (In Anlehnung an den Vortrag Pless M. Review of the Most Important Recent Contributions in Neuroophthalmology, Session Neuroophthalmology, SOG Annual Meeting, Lausanne Aug 28, 2020)


Quelle: ophta vom 18.02.2021

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