Direkt zum InhaltDirekt zum Fussbereich

«Nützen Antibiotika nichts, so schaden sie sicher.»

Antibiotika sind in der modernen Medizin nicht mehr wegzudenken. Durch den unkritischen Einsatz drohen diese Substanzen jedoch ihre Wirkung zu verlieren. Arztpraxen und Spitäler sehen sich zunehmend mit Antibiotikaresistenzen konfrontiert. Der Hausarzt Dr. med. Andreas Lischer und der Infektiologe Dr. med. Marco Rossi tauschen im folgenden Gespräch ihre Erfahrungen und Einschätzungen aus.
8. Januar 2019
Lesezeit: 6 Minuten
Dr. med. Marco Rossi, Facharzt FMH Innere Medizin und Infektiologie

Dr. med. Marco Rossi, Facharzt FMH Innere Medizin und Infektiologie

Nehmen die Antibiotikaresistenzen weiter zu?

Dr. med. Andreas Lischer: Ja, seit einigen Jahren sind wir in der Praxis verstärkt mit Antibiotikaresistenzen konfrontiert, dies vor allem bei Patientinnen mit Harnwegsinfekten, zum Teil auch bei Menschen, die an einer Infektion mit dem Magenbakterium Helicobacter pylori leiden.

Dr. med. Marco Rossi: Im Spital stellen wir Resistenzen beispielsweise bei Patientinnen mit Harnwegsinfektionen fest oder bei Patienten, die aus dem Ausland in unser Spital verlegt werden. Noch ist im LUKS meines Wissens niemand ausschliesslich wegen eines Resistenzproblems gestorben. Allerdings mussten wir bereits mehrmals mit einem Antibiotikum «auf die letzte Karte» setzen – zum Glück hatten wir Erfolg. Es gab in der Schweiz an anderen Zentren aber bereits einzelne Todesfälle im Zusammenhang mit Antibiotikaresistenzen.

Weshalb gibt es bei Verlegungen aus dem Ausland Probleme?

Dr. med. Marco Rossi: In einigen Ländern, zum Beispiel in Griechenland, aber auch in Portugal, Spanien und in Balkanstaaten, wird sorgloser mit Antibiotika umgegangen. Aus diesem Grund ist dort ein massives Resistenzproblem entstanden, was die Spitäler vor grosse Probleme stellt. So starben in einem griechischen Spital im Rahmen eines Ausbruchs sechs gesund geborene Babys an Infektionen mit nicht behandelbaren Keimen.

Dr. med. Andreas Lischer, Pilatus Praxis Luzern
Dr. med. Andreas Lischer, Pilatus Praxis Luzern

Wie beurteilen Sie die Situation bei uns?

Dr. med. Andreas Lischer: Antibiotika sind Retter und Sünder zugleich. Bei uns werden diese zwei Seiten durchaus wahrgenommen. Die Ärzte überdenken zunehmend ihre bisherige Praxis und die Patienten bestehen nicht mehr ohne Wenn und Aber auf einer Antibiotika-Abgabe. Sie betrachten sich nicht mehr als nicht ernst genommen, wenn wir einen Antibiotika- Verzicht empfehlen. Zum Beispiel sind sie bei einer Blasenentzündung eher bereit, zuerst einmal unter symptomatischer Therapie zuzuwarten und nicht sofort Antibiotika zu verlangen.

Und wenn ein Patient trotzdem auf Antibiotika besteht?

Dr. med. Andreas Lischer: Dann müssen wir abwägen: Beharren wir auf unserem Standpunkt oder akzeptieren wir den Patientenwunsch? Ein bisschen schwingt manchmal auch die Angst vor dem Vorwurf mit, bei den Antibiotika «gespart» zu haben, wenn sich – um beim Beispiel zu bleiben – der banale Harnwegsinfekt plötzlich zur gefährlichen Blutvergiftung entwickelt hat. Es geht im wirklichen Leben nicht immer ganz guideline-konform zu und her. Und doch: Eine bedenkenlose Antibiotika-Verschreibung ist bei uns sicher nicht mehr üblich.

Dr. med. Marco Rossi: Früher hat man gesagt: «Nützt es nichts, so schadet es nichts.» Das ist vorbei. Die Haltung hat sich bei uns gewandelt. Jetzt heisst es: «Nützen Antibiotika nichts, so schaden sie sicher.» Denn jede Dosis beeinträchtigt die Darmflora, dort entstehen die Resistenzen. Heute muss man eine Antibiotika-Therapie rechtfertigen, so wie andere Therapien auch.

«Es geht im wirklichen Leben nicht immer ganz guideline-konform zu und her.»

Dr. med. Andreas Lischer

Inwieweit besteht beim Umgang mit Antibiotikaresistenzen ein Austausch zwischen Hausärzten und LUKS?

Dr. med. Marco Rossi: Wir bieten Fortbildungen an, stellen Guidelines zur Verfügung und einen direkten Zugriff auf unser Handbuch. Die interaktive Resistenzdatenbank des Schweizerischen Zentrums für Antibiotikaresistenzen (anresis.ch) gibt Auskunft darüber, welche Keime in der Schweiz resistent sind. Der schnelle Zugriff auf solche Informationen erleichtert die Entscheidungsfindung in der Sprechstunde. Auch ein Telefonanruf ist manchmal hilfreich. Der direkte Austausch und Rückmeldungen würden allen Beteiligten etwas bringen. In der Regel melden sich aber die bereits an dieser Thematik Interessierten und Sensibilisierten. Es würde uns natürlich freuen, wenn sich weitere Kollegen an diesem Austausch beteiligen würden. Ebenfalls wichtig sind Tagungen wie die Zentralschweizer Internistenwoche, an der etwa 60 Prozent Hausärzte und 40 Prozent Spitalärzte teilnehmen. Auch die Zusammenarbeit mit den Hausärzten in der Notfallpraxis und in der Forschung ist wertvoll, zum Beispiel mit dem Institut für Hausarztmedizin im Rahmen einer Harnwegsinfekt- Studie.

Wie kann man den Antibiotikakonsum im Praxisalltag weiter reduzieren?

Dr. med. Andreas Lischer: Es liegt an allen Beteiligten, Verhaltensänderungen vorzunehmen, an den Patienten ebenso wie an uns Ärzten in den Praxen und Spitälern. Nicht jede bakterielle Infektion muss mit Antibiotika behandelt werden. In unserer Gruppenpraxis können wir mit wenigen Mausklicks aufzeigen, welches Antibiotikum von welchem Teamarzt wie oft verordnet wurde. Eine solche «Hitliste» hilft uns, unser eigenes Verhalten zu überdenken und wo nötig zu ändern. Antibiotika sind Reservesubstanzen, die nicht reflexartig, sondern nur gut begründet verschrieben werden sollten.

Dr. med. Andreas Lischer, Facharzt FMH Allgemeine Innere Medizin, und Dr. med. Marco Rossi, Chefarzt Infektiologie und Spitalhygiene LUKS Luzern
Dr. med. Andreas Lischer, Facharzt FMH Allgemeine Innere Medizin, und Dr. med. Marco Rossi, Chefarzt Infektiologie und Spitalhygiene LUKS Luzern

Wie gehen Sie mit den so verbreiteten Harnwegsinfekten um?

Dr. med. Marco Rossi: Harnwegsinfektionen sind tatsächlich schwierig zu therapieren, weil sie bei einzelnen Patientinnen mit unschöner Regelmässigkeit auftreten. Leider stellen wir sogar bei jungen Patientinnen, die das erste Mal darunter leiden, resistente Keime fest. Die Kunst ist, den Frauen zu zeigen, wie sie mit möglichst wenig Antibiotika die Symptome lindern können, sodass sie pro Jahr nicht mehr zehn, sondern vielleicht nur doch drei Mal Antibiotika einnehmen müssen. Dies geschieht im Interesse jeder einzelnen Patientin, aber auch im Interesse der Gesamtpopulation. Selbst wenn im Praxisalltag die Zeit drängt, sollte man bei einer Harnwegsinfektion vor der antibiotischen Therapie eine bakteriologische Untersuchung durchführen. Wenn wir gänzlich darauf verzichten, wird uns das Resistenzproblem bald um die Ohren fliegen.

Dr. med. Andreas Lischer: Es braucht aber auch ein Umdenken auf einer ganz anderen Ebene. Wenn die Patientin mit einer behutsameren Therapie einverstanden ist, der Arbeitgeber aber reklamiert, wenn sie dauernd aufs WC rennt, wenn er ihre Absenzen von den Ferien abzuziehen beginnt oder sogar ihren Job infrage stellt, was dann? Zudem ist der zurückhaltende Umgang mit Antibiotika für den Einzelnen auch teurer. In den Ferien in Griechenland erhält die Patientin in der Apotheke für weniger als 10 Euro eine Packung Antibiotika, wenn sie sich in der Schweiz in ärztliche Behandlung begibt, kostet das mit Konsultation und einer allfälligen mikrobiologischen Urinanalyse und der medikamentösen Therapie schnell einmal 200 Franken.

Wie geht es weiter?

Dr. med. Marco Rossi: Die Resistenzen verschwinden nicht mehr, im Gegenteil, sie werden weiter zunehmen, auch in unseren Spitälern. Wir können diesen Trend nicht stoppen, nur verlangsamen. Allerdings ist nicht nur die Humanmedizin gefordert. Das Problem geht weit darüber hinaus: 70 Prozent aller Antibiotika werden an Tiere verabreicht, in der Landwirtschaft, in der Fischzucht, und gelangen so in den Kreislauf.

«Wenn wir auf bakteriologische Untersuchungen verzichten, wird uns das Resistenzproblem bald um die Ohren fliegen.»

Dr. med. Marco Rossi

Was macht das LUKS?

Dr. med. Marco Rossi: Wir unternehmen grosse Anstrengungen, zum Beispiel mit Antibiotika- Schulungen und mit dem Antibiotic-Stewardship- Programm. Auf Antibiotika- Visiten überprüfen wir bei einzelnen Patienten, mit welcher Begründung Antibiotika verschrieben werden und ob dies tatsächlich gerechtfertigt ist. Manchmal würde zum Beispiel eine kürzere und weniger breite Verabreichung genügen. Das neue Klinikinformationssystem LUKiS wird uns ein weiteres Instrument in die Hand geben, um den Umgang mit Antibiotika zu optimieren. Statistiken und «Hitlisten» bringen Transparenz und zwingen die Leute in die Verantwortung. Letzten Endes liegt der Entscheid aber immer beim zuständigen Arzt. Klar ist jedenfalls, dass sich die Haltung gegenüber Antibiotika ändert.

Dr. med. Andreas Lischer: Bei der Sensibilisierung der Bevölkerung spielen die Medien eine wichtige Rolle. Unsere Patienten kommen auch einmal mit einem Zeitungsartikel in die Praxis, ganz nach dem Motto: « Wenn es in der Zeitung steht, wird es schon stimmen. » Die Menschen informieren sich auch im Fernsehen, wo die Sendung «Puls» nach der Tagesschau die zweithöchste Einschaltquote erreicht. Der Einfluss von Antibiotika auf ihr Immunsystem und ihre Darmflora ist den Leuten nicht egal. Antibiotika lassen niemanden kalt, sie haben – im Gegensatz beispielsweise zu Blutdruckmedikamenten – eine Aura, eine positive oder eine negative.

Dr. med. Marco Rossi: Ein anderes Problem in diesem Kontext ist, dass die Antibiotika billig sind und immer nur für kurze Zeit verabreicht werden. Für die Hersteller ist das wenig attraktiv. Wo es nichts zu verdienen gibt, da ist auch eine geringe Bereitschaft, Geld für Innovationen auszugeben. Wenn Antibiotika als Reservemedikamente, also möglichst zurückhaltend eingesetzt werden sollen, wer investiert da 500 Millionen Franken in ein neues Medikament? Hier sind andere Abgeltungsmodelle und neue Anreize gefragt.

Artikel teilen

Mehr zum Thema

Für LUKS-Newsletter anmelden

Wählen Sie Ihre Abonnements

War diese Seite hilfreich?