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Viele Neugeborene bekommen unnötig Antibiotika

SonntagsZeitung - Bis zu zehn Prozent aller Neugeborenen werden in ihren ersten Lebenstagen antibiotisch behandelt, aber viele bräuchten diese Medikamente gar nicht. Eine Initiative von Schweizer Kinderärzten soll Abhilfe schaffen und die Kinder vor Schaden bewahren.
13. September 2020
Lesezeit: 6 Minuten
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Zu früh geborene Babys sind besonders gefährdet: Ein Frühchen mit Infusion (Bildquelle: Getty Images)

Zu den gefürchtetsten Infektionen bei Kindern gehören Blutvergiftungen bei Neugeborenen. In der Schweiz stirbt etwa jedes zehnte betroffene Baby daran. Überlebende Kinder leiden nicht selten an den Folgen wie zum Beispiel Lernschwierigkeiten.

Diese Infektionen können rasend schnell lebensgefährlich werden. Um sie abzuwenden, bekommen bei uns etwa zwei bis vier Prozent der Neugeborenen innerhalb ihrer ersten drei Lebenstage ein Antibiotikum, in anderen Ländern sind es sogar bis zu zehn Prozent. Die Behandlung bedeutet auch: Trennung von Mutter und Kind, schmerzhafte Blutentnahmen, das Anlegen einer Infusion und mögliche Nebenwirkungen.

«Wir geben sehr vielen Neugeborenen unnötig Antibiotika.»

Bewiesen ist die Diagnose nur, wenn im Blut des Kindes die bakteriellen Erreger gefunden werden. Doch dieser Nachweis gelingt bloss bei einem von 1000 bis 5000 Neugeborenen. Auf ein Baby mit erwiesener Infektion kommen 100 bis 500, die ebenfalls antibiotisch behandelt werden. Wie viele davon das Antibiotikum gar nicht bräuchten, weiss niemand. «Wir geben sehr vielen Neugeborenen unnötig Antibiotika», stellt der Kinderarzt Eric Giannoni selbstkritisch fest. Giannoni ist Spezialist für Neu- und Frühgeborene am Universitätsspital Lausanne.

Auch die Unterschiede zwischen Spitälern können frappant sein: In einer Studie an US-Spitälern bekamen – je nach Klinik – nur zwei oder aber vierzig Prozent der Babys Antibiotika. «Es gibt Kinderspitäler, die mit viel weniger Antibiotika auskommen als andere – aber die Behandlungsergebnisse sind gleich», gibt Martin Stocker zu bedenken, der Chefarzt Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin am Luzerner Kantonsspital.

Sowohl die Gabe als auch die Behandlungsdauer sind bei den Neugeborenen häufig Ermessenssache. Das rührt einerseits daher, dass die Anzeichen für eine Blutvergiftung beim Baby sehr diskret sind: «Babys haben wenig Möglichkeiten, um uns zu zeigen, dass sie krank sind», erläutert Giannoni. Müdigkeit, Temperaturschwankungen, vermehrtes Weinen, veränderter Herzschlag – solche Zeichen können auf vieles hindeuten.

Angst und Gewohnheit spielen eine Rolle

«Bei manchen Neugeborenen zeigt sich diese Infektion nur an einer leicht erschwerten Atmung», ergänzt Stocker. « Da weiss man dann oft nicht: Ist das nun eine Folge der Kreislaufumstellung nach der Geburt, die sich wieder legt, oder ist es ein Zeichen für eine Blutvergiftung?»

Vermutlich spiele aber auch die Angst und die Gewohnheit des Kinderarztes eine Rolle. «Die Rate an bewiesenen Infektionen ging in den letzten 30 Jahren erfreulicherweise deutlich zurück. Aber wir wenden immer noch die gleichen Strategien an wie vor Jahrzehnten.»

Was soll so ein bisschen Antibiotikum schon schaden, mag mancher nun denken. Hauptsache, das Kind bekommt keine Blutvergiftung! Doch so einfach ist es nicht. «Antibiotika können die natürliche Besiedlung des Neugeborenen mit Bakterien empfindlich stören», wendet Stocker ein. «Der Lebensanfang ist für das Mikrobiom eine kritische Zeit.»

Die Folgen sind monatelang nachweisbar

Das Mikrobiom umfasst schätzungsweise zehn bis 100 Billionen von Mikroorganismen, die im und auf dem menschlichen Körper leben, in erster Linie verschiedenste Bakterienarten. Manche produzieren Substanzen, die der Gesundheit gut tun oder die Krankheitserreger in Schach halten können.

In den ersten Lebenswochen und Monaten wird das Baby von diesen Mikroorganismen besiedelt. «Funkt man da mit einem Antibiotikum dazwischen, kann sich das Mikrobiom so verändern, dass dies noch ein Jahr später nachweisbar ist», sagt Giannoni. Und diese Veränderungen können Folgen haben für das Kind und seine Familie.

Denn in den letzten Jahren sind zwei Dinge immer klarer geworden: Wie prägend das erste Lebensjahr für das Mikrobiom im späteren Leben ist und welche Bedeutung es für die Gesundheit hat: Übergewicht, Allergien, Asthma, Neurodermitis, Diabetes, Depressionen sowie Darmentzündungen und selbst Darmkrebs – bei vielen Krankheiten haben Forscher mittlerweile Veränderungen im Mikrobiom gefunden. «Diese Krankheiten hängen nicht allein mit dem Mikrobiom zusammen, aber es ist wahrscheinlich ein Faktor», sagt Giannoni.

«Wir haben das Mikrobiom bisher komplett unterschätzt.»

Die winzigen Mitbewohner auf der Haut, in den Atemwegen und im Darm können – je nach Zusammensetzung – unter anderem das Immunsystem günstig oder ungünstig beeinflussen. Kinder, die beispielsweise viele Bifidobakterien im Stuhl hatten, entwickelten nach Impfungen eine bessere Immunabwehr gegen die Erkrankung. « Wir haben das Mikrobiom bisher komplett unterschätzt», sagt Stocker.

Welche Mikroorganismen ein Neugeborenes besiedeln, werde vor allem von vier Faktoren beeinflusst: «Ob es zu früh auf die Welt kommt oder am Termin, ob es per Kaiserschnitt geboren wird oder normal, ob es Antibiotika erhält und ob es gestillt wird.» Vaginalgeburt und Stillen etwa fördern die Ansiedlung «guter» Bakterien und auch die Vielfalt im Mikrobiom.

Antibiotika dagegen schaden dem Mikrobiom und können überdies zur Resistenzbildung beitragen. Um den Antibiotika-Einsatz zu reduzieren, haben Giannoni und Stocker nun «LA4B» ins Leben gerufen. Die Abkürzung bedeutet «less antibiotics for babys», also weniger Antibiotika für Babys.

Zusammen mit Kollegen planen sie in über 50 Kinderspitälern in 13 Ländern eine Bestandesaufnahme zur Antibiotikatherapie bei Neugeborenen in der ersten Lebenswoche. «Wir möchten herausfinden, welche Länder die beste Strategie haben, und ein Bewusstsein dafür schaffen, wie oft wir unnötig antibiotisch behandeln», erläutert Giannoni.

Seit Anfang September läuft 45 Tage lang das Crowdfunding dafür, rund 20’000 Franken würden fürs Erste benötigt. Im zweiten Schritt möchten die beiden Kinderärzte in einer zweiten Studie prüfen, ob sich die « Treffsicherheit» beim Verschreiben von Antibiotika für Neugeborene verbessern lässt. Das sei eine Herausforderung, so Giannoni.

Und ein drittes Ziel haben die beiden Neonatologen: «Wir möchten die Bevölkerung und die Eltern mehr einbeziehen. Deren Meinung kennen wir nämlich bisher nicht.»
 In den letzten 25 Jahren sind Kinderärzte viel zurückhaltender geworden, was die Antibiotikatherapie betrifft.

Kinder mit Mittelohrentzündung oder Halsangina etwa wurden noch bis vor wenigen Jahren fast alle routinemässig antibiotisch behandelt, heute nur noch in bestimmten Fällen. Der Grund dafür ist, dass die einst gefürchteten Komplikationen inzwischen sehr selten geworden sind und zudem durch Antibiotika kaum verhindert werden.
Wichtig ist aber, den Arzt erneut zu kontaktieren, wenn sich die Erkrankung verschlimmert oder innerhalb von 24 bis 48 Stunden nicht bessert. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist, dass es sich für die Hersteller immer weniger lohnt, altbewährte und preiswerte Antibiotika zu verkaufen. Das jüngste Beispiel ist Amoxicillin, ein Antibiotikum, das bei der Behandlung von Kindern mit Infektionen oft die erste Wahl ist. Früh- und Neugeborene mit Blutvergiftung bekommen es als Infusion – aber nur noch bis Ende 2020. Denn der Hersteller GSK will die Produktion für Europa einstellen. Begründung: Das Herstellen der Ampullen sei «nicht mehr wettbewerbsfähig». Die Kinderärzte sind alarmiert. Auf grossen Druck von Spitalärzten und -apothekern zeichnet sich nun aber eine Lösung ab. Denn Amoxicillin als Infusion ist eines der wertvollsten Medikamente bei der Behandlung von Kindern mit Infektionen.

Quelle: SonntagsZeitung vom 13.09.2020
Autor: Martina Frei

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