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Als Hebamme vom LUKS in den Südsudan

Hier leben Menschen?, geht es Julia Bürgler durch den Kopf, als sie im Januar 2022 in Agok ankommt: Trockenzeit, 38 Grad im Schatten, alles staubig, nichts Grünes wächst. Auf dem Weg vom Flughafen zum Spital, vorbei an kleinen runden Lehmhütten, sieht sie ein paar Ziegen dürres Gras und herumliegenden Abfall fressen. Die Einheimischen sind zu Fuss unterwegs. Hier soll sie also ein halbes Jahr arbeiten. Und macht Erfahrungen fürs Leben, wie sie zum Tag der Hebamme (5. Mai) berichtet.
5. Mai 2023
Lesezeit: 5 Minuten
Buergler Julia WebseiteBanner
Julia Bürgler, Hebamme in der Frauenklinik am LUKS Luzern

Julia Bürgler arbeitet aktuell wieder als Hebamme in der Frauenklinik am Luzerner Kantonsspital. Für einen sechsmonatigen Einsatz war sie ins Grenzgebiet zwischen Südsudan und Sudan in ein Spital der Organisation Médecins Sans Frontières (MSF) gereist. Viele Menschen nehmen stunden- oder tagelange Fussmärsche in brütende Hitze mit bis zu 48 Grad in Kauf, um die weit entfernte Klinik zu erreichen. Wer für die Geburt so weit und beschwerlich reist, kommt meist wegen Komplikationen hierher.


Die ihr unbekannte Diagnose «BBA» hört sie später oft. «Born before arrival» ist damit gemeint – vor der Ankunft geboren. Patientinnen bringen eine «care taker» mit. Diese Person bringt ihnen das Essen, betreut sie vor und bei der Geburt. Diese Rolle ist begehrt: «Care taker» erhalten im Spital drei Mahlzeiten täglich, meist ein Luxus in der kargen Lebensrealität dieser Menschen. Mütter mit zehn Kindern sind keine Seltenheit. Nach 24 Stunden im Spital laufen sie mit ihrem Neugeborenen im Arm zu Fuss wieder heimwärts. Die meisten sind bereits mehrere Male geflüchtet: vor Überflutungen, Konflikten oder Dürren.

Bei hoher Belegung in einem Zelt

Die Geburtsabteilung – eine grosse Halle, gemauerte Wände, unter dem Wellblechdach macht zirkulierende Luft das Klima erstaunlich erträglich. Die Patientinnen liegen auf Metallbetten mit Plastikmatratzen. Bei hoher Belegung ist auch der Fussboden voller Matten. Das Tuch zum Liegen bringen die Frauen selbst mit. Hier warten die Frauen mit Wehen. Dort halten sich andere nach dem Gebären auf oder warten, noch schwanger, auf eine Malariabehandlung oder Magnesiumtherapie bei Präeklampsie (Schwangerschaftsvergiftung). Im «Wartebereich» − einem Korridor mit Holzbänken – sitzen oder liegen neu ankommende Frauen. Bei sehr hoher Belegung werden einige in einem nahen Zelt untergebracht.
 

MSF Südsudan
Zwei Neugeborene in Südsudan / Bild: Pierre-Yves Bernard/MSF

Dank einem ausgeklügelten Brunnensystem von Médecins Sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen) fliesst Trinkwasser. In einer Latrine können sich die Frauen erleichtern und mit einem Gefäss voll Wasser «duschen». Durch einen Vorhang abgetrennt, befindet sich ein kleiner, gekachelter Raum mit einem Lavabo, zwei Liegen und einem Tisch mit einer Unterlage für die Neugeborenen. Die Frauen klettern für die Geburt über einen Schemel hinauf. Privatsphäre gibt es kaum.

An Männer als Geburtshelfer mussten sie sich gewöhnen 

Das Hebammenteam besteht aus südsudanesischen Männern und einer Frau. Keine Gynäkologinnen. Die Hebammen übernehmen alle Aufgaben wie Vakuumgeburten, Nähen, Ultraschall, Medikamente verschreiben. Die männlichen Geburtshelfer wurden anfänglich nicht immer toleriert von den gebärenden Frauen. MSF hat sie mangels ausgebildeter Frauen eingestellt. Mit zunehmend positiven Erfahrungen stieg die Akzeptanz gegenüber den sogenannten «male midwives». Spitalsprache ist Englisch. Die Gebärenden sprechen meist nur ihr Idiom und Arabisch, Englisch die wenigsten. Ist keine Verständigung möglich, lässt sich via Funk eine übersetzende Person anfordern. 

Kein Tag gleicht dem anderen

«Eine Gebärende steht von ihrem Bett auf und geht Richtung <delivery room>. Für mich ein eindeutiges Zeichen, dass sie wohl Pressdrang hat. Sie klettert dort auf die Geburtsliege und begibt sich in Rückenlage, die leider inzwischen übliche Geburtsposition hier», erinnert sich Julia Bürgler. Sie darf das siebte Kind der Frau in Empfang nehmen und gibt ihr nach der problemlosen Placentageburt einen Bausch Watte in einen Strumpf gestopft –Wochenbettbinden. Die Mutter klemmt sich diese zwischen die Beine und steigt von der Liege hinunter. Knapp 15 Minuten nach der Geburt ist sie zurück im Bett, das Baby inzwischen von einer Assistentin mit Vitamin K intramuskulär versorgt sowie gewogen und gemessen. 

Die «care takerin» bringt das Kind der Mutter zum Ansetzen. «Während ich die Liege reinige und die Eckdaten zur Geburt notiere, wird eine Frau mit starken vaginalen Blutungen hereingebracht.» Sie sei schwanger, geschätzt zwölfte Woche. Eine kurze Untersuchung bestätigt den Verdacht einer Fehlgeburt. Der Blutverlust der Frau droht kritisch zu werden und Warten ist deshalb keine Option. Die meisten Frauen hier leiden unter Blutarmut (Anämie) aufgrund von rezidivierenden Malariaerkrankungen, Mangelernährung und Multiparität. Das Team entscheidet sich für eine manuelle Vakuum-Aspiration (Absaugen des Embryos aus der Gebärmutter). Das Mittagessen fällt heute aus. Eine Erstgebärende gebiert fast so rasch wie zuvor die 7+3-Para am Vormittag. Das +3 steht für die Anzahl ihrer Kinder, die bereits in den ersten fünf Lebensjahren verstorben sind.

Kaum Kaiserschnitt, heikle sexuelle Gewalt

Nachmittags wird eine Schwangere in der 37. Woche mit Präeklampsie hospitalisiert. Nach der Initialdosis erhält sie alle vier Stunden 5 Gramm Magnesium intramuskulär, ein detailliertes Präeklampsielabor ist hier nicht möglich. Sie wird klinisch beobachtet, dann die Geburt eingeleitet. Notfalls könnten die Chirurgen einen Kaiserschnitt durchführen. Nur vier Prozent der Geburten werden hier per Kaiserschnitt beendet.  

Nach dem Abendessen braucht ein Opfer sexueller Gewalt eine Konsultation. MSF hat dafür ein genaues Prozedere. Da diese Fälle heikel sind für lokale Mitarbeitende, werden sie von den Expats betreut. «Wir haben weniger Repression zu befürchten als unsere südsudanesischen Kolleginnen, wenn wir zum Beispiel einen Schwangerschaftsabbruch ermöglichen oder Opfern sexueller Gewalt eine Art Zertifikat mit den Untersuchungsdaten ausstellen, mit dem sie sich bei der Polizei melden können», erklärt Julia Bürgler. «Müde falle ich abends ins Bett. Unter meinem Moskitonetz in meinem Tukul – meinem kleinen Hüttchen – fühle ich mich ziemlich geborgen. Ich bin tief beeindruckt von der Stärke und Zähheit der Menschen hier.»

Ein jähes Ende für alle

Erneut eskalierte 2022 während des Aufenthaltes auch in Agok ein lokaler Konflikt. MSF musste das Spital schliessen, und die gesamte Bevölkerung ist geflüchtet. MSF leistet nördlich und südlich von Agok Nothilfe für die Geflüchteten. Wie in Agok kämpfen die Menschen vielenorts in Subsahara Afrika tagtäglich um ihr Überleben. Aktuell kennen alle die Bilder aus dem nördlichen Nachbarland Sudan. «Während ich wieder die Sicherheit der Schweiz geniessen darf, sind meine südsudanesischen Hebammenkolleginnen und -kollegen täglich Gefahren ausgesetzt, und die Not der Bevölkerung ist gross.»

 

Hier finden Sie zwei Berichte von Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières (MSF):

Situation im Südsudan im März 2022

Situation im Südsudan im April 2023

 

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