Direkt zum InhaltDirekt zum Fussbereich

Antibiotika bei Babys reduzieren

Luzerner Zeitung: Neugeborene erhalten bei Infektionsgefahr schnell, aber oft unnötig Antibiotika. Eine grosse Studie unter der Leitung eines Luzerner Arztes zeigt nun auf, dass es meist auch mit weniger geht.
3. September 2017
Lesezeit: 4 Minuten
Bis zu 7 Prozent der Neugeborenen erhalten eine Antibiotika-Infusion. Bild: Randy Riksen/Getty

Bild: Bis zu 7 Prozent der Neugeborenen erhalten eine Antibiotika-Infusion. Bild: Randy Riksen/Getty

Es ist unbestritten: In der Medizin werden zu viele Antibiotika eingesetzt. Bei Säuglingen stellt sich dabei ein spezielles Problem: Studien legen nahe, dass Neugeborene, die mit Antibiotika behandelt werden müssen, später vermehrt von Allergien, Fettleibigkeit, Darmentzündungen und Diabetes betroffen sind. Grund: Die Antibiotika schalten nicht nur die «bösen» Bakterien aus, sie verändern durch ihre Breitenwirkung gleichzeitig das sogenannte Mikrobiom, die Gesamtheit aller Mikroorganismen, die den Menschen besiedeln. In den ersten Tagen eines Menschenlebens kann das weitreichende Folgen fürs spätere Leben haben.

Und jetzt folgt das Aber: Denn unmittelbare und sehr dramatische Folgen kann der Verzicht auf Antibiotika haben.

Infusion über mehrere Tage

Besteht bei einem Neugeborenen auch nur der leiseste Verdacht auf eine Infektion, die via die Mutter bereits vorgeburtlich oder auch während der Geburt entstehen kann, wird ihm heute denn auch sofort per Infusion Antibiotika zugeführt. Meist über mehrere Tage. Schnelles Atmen, leichtes Fieber oder auch ein etwas kränklich wirkendes Aussehen lösen diese Massnahme nahezu automatisch aus.

«Sicherheit geht in den ersten Lebenstagen über alles, man darf absolut nichts versäumen, denn eine Infektion kann im Extremfall tödlich enden», sagt Martin Stocker, Leiter Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin am Luzerner Kantonsspital.

Während man bei Erwachsenen zunächst einen Bluttest macht, der Aufschluss gibt, ob ein Antibiotika-Einsatz überhaupt nötig ist, darf man bei Babys nicht zuwarten. Zudem sind bei ihnen diese Bluttests unspezifisch. Stocker: «Negativ», also kein Anzeichen für eine Infektion, bedeutet nicht, dass alles in Ordnung ist.» An der gängigen Praxis wird sich also in naher Zukunft nichts ändern. In Europa und in Nordamerika werden weiterhin im Schnitt bis zu 7 Prozent der Neugeborenen eine Antibiotika-Infusion erhalten. In der Schweiz dürften es etwas weniger sein, genaue Zahlen gibt es aber nicht.

Was Martin Stocker und andere Fachärzte schon länger beschäftigt: In den allermeisten Fällen wäre diese prophylaktische Massnahme gar nicht nötig. Denn nur etwa jeder 60. bis 70. Säugling, der mit Antibiotika behandelt wird, hat dann auch effektiv eine Infektionskrankheit.

«Jede Dosis, die man nicht geben muss, bringt Vorteile.»

Dr. med. Martin Stocker Chefarzt Neonatologie, Luzerner Kantonsspital

Das liess Stocker keine Ruhe. Unter seiner Federführung wurde über sechs Jahre und an 18 Geburtskliniken in der Schweiz, in Holland, in Kanada und Tschechien eine Studie durchgeführt, deren Ergebnisse soeben im Wissenschaftsmagazin «Lancet» veröffentlicht wurden. Wichtigste Erkenntnis: Antibiotika können gezielter und signifikant kürzer eingesetzt werden.

Möglich macht dies ein Blutwert namens Procalcitonin. Um ihn zu bestimmen, braucht man nur ganz wenig Blut, und er liefert vergleichsweise sehr schnell ein Ergebnis. Der Wert wird bei Neugeborenen alle zwölf Stunden gemessen. Ist er zweimal negativ, kann mit sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf die weitere Abgabe von Antibiotika getrost verzichtet werden. Dass dieser Marker Procalcitonin dienlich ist, war bereits bekannt. In der Studie wurde nun abgeklärt, wie verlässlich er ist.

Untersucht wurden 1710 Neugeborene mit Verdacht auf eine bakterielle Infektion. Die eine Hälfte wurde nach bislang gültigem Standard behandelt. Bei der anderen Hälfte konnte dank der Bestimmung des Procalcitonin die Dauer der Antibiotikabehandlung verkürzt werden, ohne dass es danach zu Komplikationen gekommen ist.

«Procalcitonin ist ein sehr zuverlässiger Marker», sagt Martin Stocker. Eine 100-prozentige Sicherheit gebe es aber nie. Deshalb wurde bei Babys mit hohem Infektionsrisiko gar nicht erst versucht, die Antibiotikatherapie mittels Procalcitonin zu verkürzen. High-Risk-Säuglinge – etwa ein Zehntel aller Verdachtsfälle – werden sicher auch künftig eine Antibiotika-Infusion über Tage oder gar Wochen erhalten. Der mögliche Nutzen hat da mehr Gewicht als der mögliche Schaden.

Es braucht viel Aufklärungsarbeit

Und die Babys mit weniger Risikofaktoren? «Selbstverständlich ist es nicht so, dass nun wegen dieser Studie umgehend neue Richtlinien erstellt werden, die überall gleich zum Tragen kommen », sagt Martin Stocker. Folgenlos wird sie aber sicher auch nicht bleiben. Schrittchen für Schrittchen dürfte die Dauer der Antibiotikaverabreichung reduziert werden. Martin Stocker: «Das ist gut, denn jede Dosis, die man nicht geben muss, bringt Vorteile, insbesondere auch bei ganz kleinen Frühgeburten, die in der Studie gar nicht untersucht wurden.»

Nebst viel Aufklärungsarbeit unter Ärzten brauche es jetzt weitere Studien, etwa über die Bedeutung des Mikrobioms.

Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt der verkürzten Antibiotika-Abgabe: Die Babys müssen weniger lang im Kinderspital bleiben und können in der Geburtsklinik an der Seite der Mama sein.

Autor: Hans Graber

Zum Thema

Artikel teilen

Für LUKS-Newsletter anmelden

Wählen Sie Ihre Abonnements

War diese Seite hilfreich?